Zurück zur Übersicht

Kreislaufwirtschaft im Bau: Das Forschungsprojekt Stuttgart 210

08.08.2023

Wie können Elemente neu genutzt werden, die für den Bau des Stuttgarter Hauptbahnhofs zum Einsatz kamen? Daran forscht derzeit ein interdisziplinäres Team unter Beteiligung der HTWG im Rahmen des Forschungsprojekts Stuttgart 210.

Etwa 5.000 Kubikmeter Brettsperrholz werden für die geometrisch komplexen Betonschalungen benötigt, die auf der Baustelle des neuen Hauptbahnhofes in Stuttgart zum Einsatz kommen. Nach der Produktion von Stützen, Gewölben und anderen Bauteilen sind diese Schalungen nicht mehr zu gebrauchen – zumindest dort.

Baustoff-Upcycling: Vom Bauhilfsmittel zum Proben- oder Aufwärmraum

Die Elemente sind aber sehr hochwertig: „Das ist mit Hightech bearbeitetes Brettsperrholz, mehrfach blockverleimt in teilweise meterdicker Schichtstärke, das mit einem Acht-Achs-Roboter abgefräst wurde. Man kann damit sämtliche vorstellbaren Geometrien erreichen“, sagt Dipl.-Ing. Stefan Krötsch, Professor für Baukonstruktion und Entwerfen an der HTWG-Fakultät Architektur und Gestaltung.

Er ist in dem interdisziplinären Forschungsteam der HFT Stuttgart, der HKA Karlsruhe und der HTWG Konstanz für die Koordination der Forschungsinhalte und die Bearbeitung entwurflicher und baukonstruktiver Themen zuständig.

Die Projektpartner forschen an Lösungsansätzen zur Wiederverwendung der Schalungselemente als hochwertige Bauteile. Einerseits untersuchen sie die unmittelbare Verwendung, andererseits die Anpassung der Elemente auf weitgehend rechteckige und plane, stabförmige und flächige Geometrien für alltägliche Bauaufgaben.

Das Projekt wird vom Ministerium für ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg (MLR) im Rahmen der Holzbauoffensive finanziert. ProHolz Baden-Württemberg übernimmt die Öffentlichkeitsarbeit und Koordination. Die Firma Züblin Timber, von der die Schalungselemente hergestellt wurden, unterstützt das Forschungsprojekt als Praxispartner, indem sie die digitalen Abbundpläne zur Verfügung stellt. Die Fa. Ed Züblin, die für die Rohbauarbeiten des Stuttgarter Bahnhofs verantwortlich ist, stellt für die Umsetzung der Reallabore die Schalungselemente kostenfrei zur Verfügung.

In Mannheim zum Beispiel entsteht im Rahmen des Projekts aus 18 Elementen ein Experimentalbau, der später als Mensa für Schüler*innen, als Bewegungsraum für einen Kindergarten, als Aufwärmraum für Obdachlose oder als Proberaum für das Nationaltheater Mannheim genutzt werden könnte.

Kreislaufwirtschaft im Bau: Vorhandene Ressourcen nutzen

Für den Bau müssen die Forschenden einige der Schalungselemente zerschneiden. Andere können sie direkt wiederverwenden. Ihre spezielle geometrische Form sieht Prof. Dipl.-Ing. Stefan Krötsch dabei weniger als Hindernis – eher als Chance: „Die Schalungselemente haben eine spannende Geometrie“, sagt er. Sie geben den Innenwänden des Gebäudes, das von außen wie ein ganz normales Haus aussehen wird, ein beinahe textiles Antlitz. Das Dach wird sich leicht nach innen wölben wie ein Zelt.

Ein weiterer Vorteil des Materials, der den Architekten begeistert ist seine Maserung. Zwar sind die Schalungselemente mit Bootslack überzogen, das Projektteam hat aber ein simples Verfahren gefunden, um diesen zu entfernen. Wenn sie die mehrdimensionalen Schichten der Brettsperrholzelemente anschließend anschleifen, entstünden tolle Muster, so der Professor.

Beim Bau des Gebäudes in Mannheim sollen neben den Schalungselementen auch Altglas für die Fenster sowie Altkleidung und Stroh für die Dämmung zum Einsatz kommen. „Das entspricht ganz dem Re-Use-Gedanken beziehungsweise der Kreislaufwirtschaft, die wir bei diesem Projekt konsequent umsetzen möchten“, sagt der Professor. 

Zu den erklärten Zielen des Projekts gehört das Aufzeigen von Zukunftsstrategien zur hochwertigen Nutzung von Abbruch- und Abfallmaterial. Zudem möchte das Team für die Adaption von Entwurfsentscheidungen an bestehende Ressourcen sensibilisieren. Statt den Materialbedarf an vorgegebene Entwürfe anzupassen, sollte sich aus der Sicht der Forscher*innen der Entwurfsprozess an den vorhandenen Ressourcen orientieren.

 

Weg von der Wegwerfmentalität: Holz kann CO2 jahrhundertelang binden

„Wir haben begonnen mit den Elementen zu spielen. Einen Entwurf wie diesen, würden Sie nicht einfach so bauen wollen“, sagt Prof. Dipl.-Ing. Krötsch über einen weiteren geplanten Experimentalbau in Stuttgart, bei dem die umgedrehten Schalungselemente der Kelchstützen des neuen Bahnhofsgebäudes als Dach verwendet werden.

Durch das Zusammensetzen und Umkehren der Regelelemente ergibt sich ein in sich geschlossenes Dachtragwerk, das durch die sich selbst tragenden Schalemente einen runden, stützenfreien Raum mit einem Durchmesser von 14 Metern ergibt. „Diese Konstruktion bekommen Sie sonst nicht bezahlt und hier bekommen wir die Elemente dafür geschenkt. Das ist eine tolle Chance und zeigt, was für ein riesiges Potenzial besteht. Beim Bauen werden global die größten Stoffströme umgesetzt. Wir müssen weg von der Wegwerfmentalität“, betont der Professor.

Gerade Holz habe großes Potential für den Klimaschutz. Denn beim Wachsen eines Baums wird CO2 aus der Atmosphäre eingelagert und Sauerstoff produziert. Wenn wir das Material für langfristige Zwecke verwenden, bleibt das CO2 darin gebunden, zum Beispiel beim Bauen. „Unsere Fachwerkstädte sind 800 Jahre alt. Das ist aktiver Klimaschutz“, sagt Prof. Dipl.-Ing. Krötsch.

Es sei wichtig, den Baustoff immer weiter zu verwenden und ihn dabei im besten Fall auf- statt abzuwerten. Im Projekt Stuttgart 210 passiert genau das, indem aus Bauhilfsmitteln Primärkonstruktionen entstehen. Ursprünglich hätten sie zu Dämmmaterial verarbeitet werden sollen.

Ein juristisches Gutachten soll Rechtssicherheit für zukünftige Bauprojekte schaffen

Ein weiterer Teil des Projekts beschäftigt sich damit, die Elemente zu geometrisieren, also sie rechteckig zuzuschneiden, sodass sie ganz normale Alltagszwecke erfüllen können, zum Beispiel als Decken beim Sozialwohnungsbau.

Bei der Aufwertung und Wiederverwendung gibt es aber verschiedene rechtliche Hürden. Als Beispiel nennt Prof. Dipl.-Ing. Krötsch, dass es früher jahrhundertelang üblich war, einen alten Balken neu zu verbauen. „Das ist eigentlich das beste Holz. Das hat sich bewährt und ist lange getrocknet“, sagt der Professor.

Irgendwann sei dies aber einmal illegal geworden. Ein alter Balken fällt heute unter das Abfallgesetz. Wenn nun die Elemente aus dem Bau des Stuttgarter Bahnhofs vor der Wiederverwendung zwischengelagert werden, müssen die Projektpartner genau darauf achten, wie dieser Zwischenschritt klassifiziert ist. Das Zwischenlager gilt sonst als Mülldeponie und müsste strenge Auflagen erfüllen.

„Das ist natürlich auch sinnvoll. Sonst könnte ja jeder mit dem Vorwand es handele sich dabei um wertvolle Rohstoffe seinen Müll irgendwo ablegen“, erklärt der Professor. Teil des Forschungsprojekts ist deshalb ein juristisches Gutachten. Es soll für potentielle Bauherren zukünftig Rechtssicherheit schaffen und ihnen Empfehlungen an die Hand geben.

Neue Wege bei der CO2-Bilanzierung

Zusätzlich erarbeitet Dr.-Ing. Thomas Stark, Professor für Energieeffizientes Bauen an der HTWG, im Rahmen des Projektes eine neue Art der Ökobilanzierung. Denn bisherige Bilanzierungen betrachten nur einen Zeitraum von 50 Jahren. So kommt es, dass diese die Verbrennung von alten Holzbauteilen zur Energiegewinnung als sinnvoller erscheinen lassen, als deren Wiederverwendung. „Das ist bar jeder Logik, da wir das CO2 ja über Jahrhunderte binden wollen anstatt über einen willkürlichen Bilanzierungszeitraum von gerademal 50 Jahren“, sagt Prof. Dipl.-Ing. Krötsch.  

Zukünftig soll sich das ändern. „Wir nehmen dieses Projekt zum Anlass uns an die Spitze dieser Bewegung zu setzen“, sagt der Architekt.